Artikel aus der Freien Presse Chemnitz



  1. Bericht-Montagsdemo 30.August in Chemnitz


  2. Interview mit Friedrich Schorlemmer


  3. Lafontaine wirft Schröder Wahlbetrug vor


  4. Der Protest formiert sich von Leipzig bis Olbernhau


Bericht-Montagsdemo 30.August in Chemnitz

Wieder rund 3500 Chemnitzer bei gestriger Montagsdemo dabei

Von Eveline Rößler

Mieses Wetter den ganzen Tag, doch am Abend gegen 18 Uhr kam dann doch noch die Sonne raus und beleuchtete die Szene. Gut 3000 bis 3500 Menschen, so viele wie auch am vergangenen Montag, hatten sich gestern wieder zur Demo am Karl-Marx-Kopf versammelt. Mit Pfeifkonzerten und auf Plakaten ("Nur Politiker überleben", "Ein Gespenst geht um in Deutschland. Sein Name: G-Schröder-Frankenstein") machten sie ihren Protest gegen die angekündigten Arbeitsmarktreformen Luft.
Unter den Rednern war auch Friedenspfarrer Hans-Jochen Vogel, der klare Worte fand. Der Deutsche-Bank-Chef, so führte er an, verdiene in sechs Minuten, wovon ein von Hartz IV Betroffener einen ganzen Monat leben soll. Man muss ihn fragen, ob er der Millionen, die man ihm schenke, noch bedürftig sei. Vogel wandte sich auch gegen die Meinung einiger ehemaliger DDR-Oppositioneller, die nichts mit den heutigen "Montags-Demo" zu tun haben wollen. Er und auch viele anderen würden das nicht so sehen. Es gehe nach wie vor um Gerechtigkeit und Selbstbestimmung. In Zukunft gehe es neben dem Protestieren aber auch um's Diskutieren, um das Aufmachen von Alternativen.
Die Demos in Ost und West gehen mit allen Bündnispartnern weiter, sagte Mitinitiator Einde O'Callaghan am Rande der Veranstaltung zu "Freie Presse". Die zentralen Proteste am 2. Oktober würden entweder in der Hauptstadt oder in den einzelnen Bundesländern stattfinden. Für den kommenden Montag wurde in Chemnitz eine Demo mit "offenem Mikro" angekündigt.





 Schorlemmer: "Kanzler muss den Osten ernster nehmen"

Ex-Bürgerrechtler sieht Ostdeutschland mit Hartz IV kippen - Scharfe Kritik an "Schnoddrigkeit" der Bundesregierung - Solidarität und Reform haben Sinn verloren


Berlin. Der frühere DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer ist als scharfer Kritiker der rot-grünen Reformpolitik bekannt. Er sieht vor allem die Ostdeutschen als die Verlierer der Agenda 2010 an. Peter Koard wollte von dem Theologen und überzeugten Sozialdemokraten wissen, welche Folgen Hartz IV für den Einigungsprozess hat.
Freie Presse: Die Proteste weiten sich aus. Werden die Gräben zwischen Ost und West wieder aufgerissen ?
Friedrich Schorlemmer: Das ist so. Bei den Protesten gegen Hartz IV entlädt sich aufgestauter Frust. Die hohen Erwartungen, die die Ostdeutschen mit der Wiedervereinigung hatten - und die ihnen auch gemacht wurden - sind nicht erfüllt worden. Hinzu kommt, dass viele fürchten, sie fallen mit der Reform in ein soziales Loch. Deswegen wehren sie sich und gehen auf die Straße. Außerdem erwarten die Menschen im Osten stärker als im Westen, dass der Staat soziale Regelungskompetenz wahrnimmt .
Freie Presse:. darauf setzt doch auch die Bundesregierung, wenn sie immer wieder ankündigt, was mit
Hartz IV alles besser wird.
Schorlemmer: Die Menschen spüren, dass dies leere Versprechungen sind. Sie fühlen sich von den Regierenden nicht ernst genommen. Das lässt sich auch nicht mit besserer Vermittlung der Reformvorhaben ändern. Das muss man schlucken oder dagegen protestieren. Und die Ostdeutschen haben sich für das Zweite entschieden.
Freie Presse: Schätzt der Kanzler die Stimmung im Osten richtig ein?
Schorlemmer: Er reduziert die Stimmung auf ein Verhetzungsproblem. Wenn die Menschen von Gerhard Schröder gewarnt werden, sich nicht von der PDS aufhetzen zu lassen, werden sie erst recht wütend. Bei solchen Äußerungen wird ersichtlich, wie tief die Gräben zwischen Ost und West eigentlich sind. Der Kanzler kann sich nicht vorstellen, welche roten Lampen bei den Ostdeutschen angehen, wenn ihnen unterstellt wird, bei ihrer Meinungsäußerung seien sie von anderen aufgehetzt worden. Das ist den Menschen im Osten 40 Jahre von der SED vorgehalten worden. Damals war es der imperialistische Klassenfeind. Als wenn man nicht selber denken könnte und einen Einflüsterer braucht.
Freie Presse: Macht Schröder es sich damit zu leicht?
Schorlemmer: Auf jeden Fall. Er muss die Lebenssituation der Menschen ernster nehmen und den Arbeitslosen erklären, wie sie von 331 Euro plus Wohn- und Heizungsgeld im Monat leben sollen. Da gibt es nichts zu vermitteln. Es kann den Ostdeutschen niemand weismachen, dass ab dem 1. Januar 2005 hunderttausende Arbeitsplätze entstehen.
Clement ist so arrogant wie einst Günter Mittag vom SED-Politbüro, so Friedrich Schorlemmer
Ich glaube, dass Gerhard Schröder, Franz Müntefering und Wolfgang Clement es gut meinen, aber die Schnoddrigkeit, mit der sie über die Ängste der Leute hinweggehen, die ist ungeheuerlich - vor allem von Wirtschaftsminister Clement. Er ist so arrogant wie einst Günter Mittag vom SED-Politbüro. Er erzählt überall, dass er im Osten rumkomme und ganz etwas anderes höre. Ich weiß nicht, mit wem er da gesprochen hat. Clement muss genauer hinhören. Dann hätte er auch das nötige Einfühlungsvermögen. Ich glaube, viele in der Regierung wissen gar nicht mehr, wie es den Menschen geht, die von Hartz IV betroffen sind. Sie sagen nur, so schlimm wird das nicht. Das lässt sich leicht sagen, wenn man 5000 Euro und mehr im Monat verdient.
Freie Presse: Dennoch wird im Westen über die Aktionen zunehmend der Kopf geschüttelt.
Schorlemmer: Die Demonstranten sind nicht gegen die Demokratie, sondern sie setzen sich dafür ein, dass Gerechtigkeit und Freiheit zusammengehören. Die Grundfrage ist doch, ob Sozialdemokraten es hinnehmen können, dass man in einer ökonomischen Krise die Ärmeren noch ärmer macht und sich an die Reicheren nicht rantraut. Das kann nicht sozialdemokratisch sein und gilt für den Westen genauso wie für den Osten. Die immer wieder beschworene Solidarität hat längst ihren Sinn verloren, genauso wie der Begriff Reform - was da passiert, ist schlicht Abbau. In den alten Ländern wird Wut auf die undankbaren Ostdeutschen geschürt und im Osten machen sich national-soziale Gefühle breit.
Freie Presse: Kritiker der ostdeutschen Entwicklung sehen nicht nur die PDS als Profiteur, sondern auch die NPD.
Schorlemmer: Das ist eine ungeheuerliche Gleichsetzung. Wer die PDS in dieser Weise diffamiert, treibt die Wähler in deren Arme.
Freie Presse: Was muss die Bundesregierung tun, um den Osten nicht abrutschen zu lassen, wie es der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck gesagt hat?
Schorlemmer: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat einmal festgestellt, der Osten steht auf der Kippe. Ich sage inzwischen: Jetzt kippt der Osten. Die Bundesregierung scheint sich damit abgefunden zu haben, dass Ostdeutschland auf Dauer am Tropf hängt. Das wird sich auch nicht ändern, so lange dort keine Wertschöpfung stattfindet.
Freie Presse: Kommt Schröder um Änderungen herum?
Schorlemmer: Jetzt zu wackeln, bringt die Bundesregierung um alle Glaubwürdigkeit. Aber wenn sie so weiter macht, ergeht es ihr nicht anders. Schröder ist dabei, mit seiner Politik den sozialdemokratischen Gedanken in die Sackgasse zu fahren. Mit der Agenda 2010 hat er eine Grundentscheidung zu Gunsten des neoliberalen Zeitgeistes getroffen. Es war falsch, ganz auf Angebotspolitik zu setzen und die Kaufkraft zu vernachlässigen.
Freie Presse: Da sind Sie bei Oskar Lafontaine. Was halten Sie von seinem Auftritt in Leipzig?
Schorlemmer: Der falsche Mann sagt Richtiges.

Ellen Liebner






Nachrichten :

Zahl der Demonstranten gegen Hartz IV in Leipzig im Vergleich zur Vorwoche fast verdoppelt - Ex-SPD-Chef kritisiert Rot-Grün und Opposition

Im Mittelpunkt: Der frühere SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine war prominenter Teilnehmer der Montagsdemonstration in Leipzig. Lafontaine warf Kanzler Schröder und der Opposition Wahlbetrug vor. Arnd wiegmann/rtr

Leipzig/Berlin. Die Proteste gegen die Hartz-IV-Reformen werden stärker. In Ostdeutschland gingen gestern Abend mehr Menschen auf die Straße als je zuvor. In Leipzig, wo sich die Zahl der Demonstranten nach Veranstalterangaben auf 60.000 verdoppelte, warf Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine der Bundesregierung und der Opposition Wahlbetrug vor.
Der Saarländer, der vor seinem Marsch durch die Stadt von einem Eierwerfer attackiert worden war, erntete auf der Rednertribüne neben etlichen Buh-Rufen auch reichlich Beifall. Dabei enthielten seine vermeintlichen Reform-Alternativen altbekannte Sprüche. Es ging um die Mehrbelastung der Besserverdienenden und darum, dass die Interessen des Volkes dominieren sollen: "Es kann nicht sein, dass den Reichen die Steuern gekürzt werden, eine Rentnerin aber Praxisgebühren zahlt." So dürfe keine Politik gemacht werden.
Der Auftritt Lafontaines dürfte eine der meistbeachteten öffentlichen Reden eines Politikers der letzten Jahre gewesen sein. Kamerateams und Presseleute aus ganz Europa waren nach Leipzig gekommen, um das vermeintliche Comeback des früheren Schröder-Gefolgsmannes, der heute als heftiger Kanzler-Widersacher gilt, zu beobachten. Gleichwohl war Lafontaines Leipzig-Rede im Vorfeld stark umstritten. Kritisiert wurde von etlichen Gruppen, von Gewerkschaftern und Kirchenvertretern, dass die Proteste von linken und rechten Strömungen vereinnahmt und missbraucht würden.
Vor der Demonstration, deren Teilnehmerzahl von der Polizei wesentlich geringer als von den Veranstaltern eingeschätzt wurde, fand in der Nikolaikirche ein Friedensgebet statt. In dem voll besetzten Gotteshaus rief Pfarrer Christian Führer die Menschen auf, sich weiter zu Wort zu melden. "Endlich ist der lang ersehnte Ruck durch Deutschland gegangen", so der Theologe. Sachsens Landesbischof Jochen Bohl appellierte an die Zuhörer, "besonnen zu bleiben". Es gebe keine Alternative zur demokratischen Ordnung.
In Zwickau demonstrierten 4000 Menschen, in Stollberg 1100, in Aue 800 und in Plauen 950. In Chemnitz waren gestern mehr als 3000 Hartz-Kritiker auf der Straße. Starken Zulauf hatten die Demonstrationen erneut auch in Sachsen-Anhalt. In Magdeburg schätzte die Polizei die Zahl auf 6000, in Dessau auf 2500, in Halle sollen es 3500 Demonstranten gewesen sein.
Der frühere DDR-Bürgerrechtler und Theologe Friedrich Schorlemmer hat Bundeskanzler Gerhard Schröder unterdessen vorgeworfen, die Stimmung im Osten im Zusammenhang mit den Hartz-IV-Protesten falsch einzuschätzen. Die Ostdeutschen spürten, dass die angekündigten Verbesserungen durch die Reformen "leere Versprechungen seien", sagte Schorlemmer der "Freien Presse". Er forderte den Kanzler auf, die Lebenssituation der Hartz-IV-Betroffenen ernster zu nehmen und ihnen zu erklären, wie sie von 331 Euro plus Heizungs- und Wohngeld leben könnten. Es sei ungeheuerlich, mit welcher "Schnoddrigkeit" Schröder, Müntefering und Clement über die Ängste der Menschen hinweggingen.




Nachrichten

Der Protest formiert sich von Leipzig bis Olbernhau

Bundesweite Demonstrationen gegen Hartz IV in 185 Städten - Lafontaine rechnet in Leipzig mit Regierung ab - Kundgebungen auch in vielen Kleinstädten Südwestsachsens

Von unserer Redaktion (FP)


Leipzig/Chemnitz. Hartz IV sorgt weiterhin für Massenproteste. Gestern Abend gingen in bundesweit 185 Städten Menschen auf die Straße, die meisten in Leipzig. In Südwestsachsen zählten die Veranstalter vielerorts mehr Teilnehmer als in der Vorwoche. Erstmals wurde auch in Stollberg, Aue, Meerane und Penig demonstriert.

Leipzig. Er kam, sprach, wurde ausgepfiffen und dann doch bejubelt. Oskar Lafontaine startete gestern Abend auf dem Leipziger Augustusplatz eine Verbalattacke nach der anderen gegen die rot-grüne Bundesregierung. Auf der mit schätzungsweise 40.000 Teilnehmern größten Montagsdemo seit Beginn der Massenproteste gegen Hartz IV, lief der 60-Jährige zur Hochform auf. Die Arbeitsmarktreformen bedeuteten für die Mehrheit eine Verschlechterung ihrer Lebenslage. Die Oberen würden entlastet, "die unten immer mehr belastet".
Allen im Bundestag vertretenen Parteien warf der Saarländer Wahlbetrug vor und die Demonstranten riefen "Schröder muss weg". Vergessen schien, dass Lafontaine vor sechs Jahren auf dem Leipziger SPD-Parteitag selbst eine Korrektur der Arbeitslosenversicherung angeregt hatte. Nach und nach verstummten Pfiffe und Buh-Rufe gegen den Mann, der 1989 noch gegen eine gemeinsame Staatsbürgerschaft der Deutschen in Ost und West auftrat.
Lafontaine wurde vom Aktionsbündnis "Soziale Gerechtigkeit", das erstmals als Demo-Veranstalter aktiv wurde, eingeladen. Dem Zusammenschluss von Hartz-IV-Gegnern gehört auch die "Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit" an, die als Vorläufer einer möglichen neuen Linkspartei gesehen wird. Eine durchaus delikate Konstellation, die die Frage aufwirft: War Lafontaines Generalabrechnung mit der Bundes-Politik die Overtüre für das Comeback des umstrittenen Machtmenschen von der Saar?
Auf jeden Fall hat er Eindruck gemacht. Rentnerin Magarete Graupner: "Er hat mir gefallen und es bleibt abzuwarten, wie er politisch weiter agiert".

Chemnitz. Wie in den Vorwochen versammelten sich rund um das Marx-Monument 3000 bis 3500 Demonstranten. Lautstarker Beifall begleitete die Ansprache des sächsischen Gewerkschafts-Chefs Hanjo Lucasse, der als einer der Redner zu den Chemnitzern sprach. Mit scharfen Worten geißelte er Hartz IV als Symbol einer sozial ungerechten Politik.

Zwickau. Mit rund 4000 Teilnehmern schwoll der Protest gestern im Vergleich zum vergangenen Montag auf das Doppelte an. Unter den Demonstranten waren auch Teile der Belegschaft des Autobmobilzulieferers Dräxlmaier, der seine Produktion nach Polen verlagert und sein Zwickauer Werk mit derzeit noch 72 Beschäftigten im November schließt. "In zwei Jahren sind die meisten wohl auch von Hartz IV betroffen", urteilte Beriebsratschefin Martina Hopp desillusioniert.

Zur ersten Kundgebung gegen Hartz IV zogen in Stollberg rund 1100 Menschen durch die Stadt. Vor dem Arbeitsamt drohte die friedliche Atmosphäre für einen Augenblick zu kippen, weil Behördenmitarbeiter die Demonstranten fotografierten. An den ebenfalls ersten Protesten in Aue beteiligten sich rund 800 Personen. Vor dem Kulturhaus forderten sie die Rücknahme der Hartz-IV-Reform. Auf dem Theaterplatz in Plauen zählten die Veranstalter etwas mehr als 900 Teilnehmer, die zum Rathaus der Stadt weiterzogen.
Auch in Meerane formierte sich gestern zu ersten Mal ein Protestzug gegen Hartz IV, dem sich rund 100 Personen anschlossen. 150 Menschen versammelten sich auf dem Marktplatz von Penig, darunter viele junge Demonstranten. Im vogtländischen Markneukirchen versammelten sich ebenfalls 150 Teilnehmer, in Olbernhau gingen rund 100 Menschen auf die Straße.


Etwa 100 Gegner der Arbeitsmarktreform zogen in Meerane durch die Innenstadt zur Endkundgebung im Wohngebiet Remser Weg. Uwe Meyer

Premiere in Aue: Rund 800 Menschen demonstrierten. Marcel Weidlich